Afrikanische Politiker preisen einen madagassischen Kräutertrunk als Heilmittel gegen COVID-19. Die Wirksamkeit ist nicht bewiesen, doch erste Erkenntnisse zum Wirkstoff Artemisinin sind unterwegs.
Seit Wochen ist das Naturheilmittel Covid Organics, ein Kräutertrunk auf Basis der Artemisia-Pflanze, in Afrika in aller Munde. Madagaskars Präsident Andry Rajoelina hatte das Mittel Ende April unter großem Medienrummel präsentiert: Covid Organics wehre das neuartige Coronavirus ab und heile sogar die durch das Virus ausgelöste Krankheit COVID-19. Weitere afrikanische Regierungschefs schlossen sich den Lobeshymnen auf das angebliche Wundermittel an, während internationale Organisationen zunächst zur Vorsicht mahnten.
Tatsächlich ist Artemisinin, der Wirkstoff aus der in Deutschland als einjähriger Beifuß bekannten Pflanze, ein alter Bekannter in der Pflanzenheilkunde. Seit 20 Jahren wird der Wirkstoff etwa gegen Malaria eingesetzt. Algerische Forscher hatten bereits im April die Wirksamkeit von Malaria-Medikamenten gegen SARS-CoV-2 getestet – dabei hatte sich ihrer Studie zufolge Artemisinin als etwas wirksamer erwiesen als Hydroxychloroquin. Letzteres galt einigen Wissenschaftlern zwischenzeitlich als möglicher Wirkstoff gegen COVID-19, inzwischen geht man davon aus, dass es die Sterblichkeit erhöht. Nun richtet sich das Augenmerk von Wissenschaftler am Max-Planck-Institut in Potsdam auf die Frage, ob sich mit Extrakten aus Artemisia tatsächlich auch das neuartige Coronavirus bekämpfen lässt.
Es sei eine der ersten Studien, in der Wissenschaftler die Funktion dieser pflanzlichen Substanzen im Zusammenhang mit COVID-19 untersuchen, sagt der Leiter der Studie Peter Seeberger im Gespräch mit der DW. Laut Seeberger bekämen jedes Jahr über 300 Millionen Patienten auf Artemisinin basierende Medikamente. Die potentielle Wirkung sei dabei nicht auf Malaria beschränkt. “Der Wirkstoff wurde auch schon gegen andere Krankheiten recht erfolgreich ausprobiert”, erklärt der Chemiker. So gibt es beispielsweise Berichte, dass Artemisinin gegen das erste SARS-Coronavirus (SARS-CoV) wirksam war.
Forschung ist in jedem Fall ein Gewinn
Deshalb testen Seeberger und seine Kollegen nun in Laborversuchen, wie Reinsubstanzen des Beifuß und Artemisinin auf das neuartige Coronavirus wirken. Dazu bringen die Wissenschaftler aus Dänemark und Deutschland in Hochsicherheitslabors die pflanzlichen Substanzen mit dem Virus zusammen und erforschen so eine eventuelle Wirksamkeit gegen die neue Krankheit. Noch sei unklar, ob das Mittel präventiv oder als Therapeutikum eingesetzt werden könne, sagt Seeberger: “Wir forschen derzeit in beide Richtungen.”
Mit Ergebnissen rechnen die Wissenschaftler spätestens Ende Mai. Sollte sich Artemisinin als wirksam herausstellen, müssten im Anschluss klinische Studien am Menschen stattfinden. Aber auch wenn die Hoffnungen auf ein Medikament auf Basis des Wirkstoffs gegen COVID-19 enttäuscht würden, wäre dies ein Gewinn, sagt Seeberger: Es würde vor allem Klarheit bringen.
Klarheit, die etwa Madagaskars Präsident Andry Rajoelina vermissen ließ, als er Covid Organics im April vorstellte. Zwar berief sich Rajoelina auf Versuche madagassischer Wissenschaftler, die jedoch keinen überzeugenden Nachweis der Wirksamkeit liefern konnten.
“Tests an einigen Personen”
Im Gespräch mit der DW spricht der Direktor des madagassischen Forschungsinstituts IMRA Charles Andrianjara vage von “Tests an einigen Personen” und beruft sich auf die langjährige Erfahrung mit dem Präparat – es seien keine Nebenwirkungen bekannt. Wissenschaftliche Studien zitiert er allerdings keine. Schwierig ist auch die Überprüfung des Kräutertrunk durch andere Forscher, da die Zusammensetzung des Medikaments geheim gehalten wird. Andrianjara beruft sich im Gespräch mit der DW dabei auf die Rechte am geistigen Eigentum.
Auch aufgrund der fehlenden Evidenz rund um Artemisinin hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vergangene Woche davor gewarnt, nicht ausreichend geprüfte Mittel gegen COVID-19 einzunehmen. Dennoch haben bereits mehrere afrikanische Länder das angebliche Wundermittel in Madagaskar bestellt, darunter Tansania, Togo und der Tschad.
Auch Nigeria erwartet eine Lieferung. Doch in der Zeitung “Punch” verweist der nigerianische Koordinator in COVID-19-Fragen Sani Aliyu darauf, dass das Medikament erst verteilt würde, nachdem es durch die Nationale Gesundheitsbehörde (National Agency for Food and Drug Administration and Control) regulär überprüft und freigegeben werde.
Traditionelle Medikamente als Chance
Madagaskars Präsident Andry Rajoelina hingegen hat den Kräutertrunk Covid Organics gegen Kritik verteidigt. Die Wirksamkeit des Mittels werde nur deshalb in Zweifel gezogen, weil er aus dem ostafrikanischen Inselstaat und nicht aus Europa komme, sagte der Staatschef am Montag in einem Interview mit französischen Radiosendern. Die Welt wolle nicht zugeben, dass “ein Land wie Madagaskar diese Formel entwickelt hat, um die Welt zu retten.”
Dabei sei es durchaus möglich, dass in der traditionellen Medizin neuartige Lösungen gefunden würden, sagt Michel Yao vom Regionalbüro Afrika der WHO im DW-Interview: “Aber diese Medikamente sind mit Vorsicht zu genießen, denn es gibt keine Beweise. Wir wissen nicht, wie wirksam diese traditionellen Medikamente, für die es Empfehlungen von Ländern oder Behörden gibt, tatsächlich sind und ob sie für die menschliche Gesundheit unbedenklich sind.”
Madagaskar könnte profitieren
Das bestätigt auch Helen Rees, geschäftsführende Direktorin für klinische Medizin an der Universität von Witwatersrand in Johannesburg. In den letzten 10, 20 Jahren sei das Interesse an traditioneller Medizin zu Recht stark gestiegen. “Doch Sie müssen in der Lage sein, die Sicherheit und Wirksamkeit in einer klinischen Studie nachzuweisen”, so Rees im Interview mit der DW – auch wenn man wie in diesem Fall seit vielen Jahre Erfahrung mit der Anwendung bei allgemeinen Symptomen und bei Malaria habe. “Für ein neues Virus ist es sehr wichtig, zeigen zu können, dass es entweder zur Vorbeugung und/oder zur Behandlung funktioniert”, so Rees weiter.
Sollte sich die Wirksamkeit der Beifuß-Extrakte gegen COVID-19 in der Max-Planck-Studie und darauf folgenden klinischen Test bestätigen, würde auch Madagaskar davon profitieren, glaubt Peter Seeberger. “Bereits heute werden ungefähr zehn Prozent des Artemisininbedarfs für Malaria-Medikamente durch die Produktion in Madagaskar gedeckt”, so Seeberger. Es könnte daher attraktiv sein, auch künftig vor Ort zu produzieren.
Mitarbeit: Éric Topona, Fréjus Quenum
In einer früheren Version der Artikels wurde ein Interviewpartner mit der Aussage zitiert, es handele sich um die erste Studie mit Artemisia-Wirkstoffen. Algerische Wissenschaftler haben jedoch bereits im April eine Studie dazu veröffentlicht. Diese wurde nachträglich in den Artikel aufgenommen.